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„Wir haben Nachholbedarf“
Wirtschaftsminister Wissing zur Infrastruktur im Land
von Nicolas Schöneich

Im Gespräch: Wirtschaftsminister Volker Wissing
Herr Minister, Rheinland-Pfalz liegt zentral – ist dadurch aber auch Transitland, was die Infrastruktur entsprechend belastet. Wo ist der Investitionsbedarf besonders hoch?
Wir haben Nachholbedarf beim Straßenausbau. Lange Zeit wurde wenig investiert, die Bundesmittel zur Ertüchtigung der Bundesfernstraßen und Bundesstraßen sind zurückgegangen. Jetzt aber laufen die Investitionen hoch, alleine für Rheinland-Pfalz von gut 356 Mio. Euro 2016 auf gut 433 Mio. Euro dieses Jahr – das sind fast 22 Prozent Plus, das ist gigantisch. Und wir stehen vor der schwierigen Aufgabe, das ganze Geld des Bundes auch zu verbauen. Auf Landesebene haben wir uns darauf verständigt, die Mittel für den Landesstraßenbau deutlich zu erhöhen, auf 120 Mio. Euro pro Jahr. Die reinen Bauausgaben (ohne Grunderwerb, Planungskosten etc.) liegen bei 95 Millionen Euro pro Jahr, das sind zehn Millionen Euro mehr als noch im Jahr 2016. 2017 kommen wir mit Bundes-, Landes- und kommunalen Mitteln dann insgesamt auf 573 Mio. Euro, die in unsere Straßen fließen – das ist die höchste Summe in der Geschichte des Landes.
Was ist das Problem daran, das Geld des Bundes auch zu verbauen?
Das Problem ist, dass der Bund seine Mittel sehr plötzlich angehoben hat. Jetzt müssen wir unsere Planungskapazitäten anpassen. 2016 habe ich 20 neue Ingenieursstellen beim Landesbetrieb Mobilität (LBM) geschaffen. Im neuen Doppelhaushalt 2017/18 haben wir zusätzliche 56 Stellen für Straßenbauingenieure vorgesehen. Weit überwiegend sind die Stellen schon besetzt – trotz des Fachkräftemangels.
Allerdings sind das nicht vom ersten Tag an erfahrene Straßenbauingenieure, sondern sie müssen sich einarbeiten. Wenn sie einsatzfähig sind, geht die Planung los und im Anschluss können die eigentlichen Bauarbeiten beginnen. Meine Aufgabe ist es aber nicht, darüber zu klagen, sondern das mit maximaler Beschleunigung voranzutreiben. Ich wüsste nicht, was man in Rheinland-Pfalz noch schneller machen könnte.
Sind denn die Kapazitäten im Tiefbau überhaupt da?
Derzeit sind die Möglichkeiten begrenzt. Das ist ein Problem. Aber wir nutzen alle Kapazitäten auch der privaten Bauwirtschaft: 2016 hat der LBM externe Ingenieurleistungen über 31,1 Mio. Euro beauftragt. Für 2017 sind im Wirtschaftsplan schon 35,6 Mio. Euro vorgesehen. Allerdings gibt es beim Straßenbau auch eine Toleranzgrenze von Bürgern und Unternehmen. Meine Fachabteilung sagt mir, dass wir mit zusätzlichen Baumaßnahmen wirtschaftliche Schäden anrichten könnten durch zu starke Eingriffe in den Verkehrsfluss.
„Beim Straßenbau gibt es eine Toleranzgrenze von Bürgern und Unternehmen.“
Erwarten Sie, dass Sie die Bundesmittel für 2017 ausschöpfen werden?
Das ist unser Ziel. Aber auch andere Bundesländer, wie zum Beispiel Bayern haben Probleme, das zu tun. Es wird immer versucht, das mit der jeweiligen Regierung in Verbindung zu bringen. Daher zur Erläuterung: Viele fragen, warum wir statt 76 nicht 176 Ingenieure einstellen. Weil 433 Mio. Euro Auftragsverwaltung für den Bund sind. Wenn der mir garantieren würde, dass dieses Geld die nächsten 20, 25 Jahre fließt, wäre es für uns einfacher, mehr Ingenieure einzustellen. Der Bund garantiert das aber nur für einen kurzen Zeitraum. Wer geht denn so ein Risiko ein? Das Personal für ein Jahr aufzubauen und nicht zu wissen, ob man im Folgejahr den gleichen Auftrag kriegt.
Sie setzen 120 Mio. Euro Landesmittel für den Straßenbau ein, es gibt aber schon Forderungen nach 160 Mio. Euro, der Landesrechnungshof beziffert den Investitionsstau auf 1 Mrd. Euro.
Die rheinland-pfälzische CDU fordert die 160 Mio. Euro erst, seit ich auf 120 Mio. Euro erhöht habe. Vorher lag sie unter 120 Mio. Euro. Glaubwürdig ist das nicht. Meines Wissens betragen die Mittel in NRW 200 Mio. Euro. Wenn Sie das pro Kopf umrechnen, liegt Rheinland-Pfalz beim fast Dreifachen an Straßenbaumitteln. Da sind wir schon wahnsinnig gut. Und mehr Landesstraßenbaumittel kann ich auch nicht verbauen. Die Zahlen des Rechnungshofs beziehen sich im Übrigen auf eine sofortige perfekte Sanierung sämtlicher Straßen. Aber das sind theoretische Betrachtungen. Der geforderte Betrag kann schließlich nicht in einem Jahr umgesetzt werden.
Was den Straßenbau angeht, wurden früher indes auch Entscheidungen getroffen, die heute anders ausfielen: Ich glaube, Ludwigshafen würde heute keine Hochstraße mehr bauen. Damals war das eine mustergültige Verkehrsführung, kreuzungsfrei, mit dem Auto über allem. In Koblenz und hier in Mainz gibt es solche Hochstraßen auch. Sie sehen grauenhaft aus, darunter entstehen tote Räume – und durch diese unnötigen Brücken laufen wir auf ein wahnsinniges Sanierungsproblem zu. Rückblickend war das ein eingeschränkt kluger Gedanke.
„Ziel bleibt die flächendeckende Glasfaserverkabelung“
Bei Infrastruktur wird häufig nur über die „klassische“, also Straßen geredet. Aber wie wichtig ist diese denn künftig im Verhältnis zur digitalen Infrastruktur überhaupt noch?
Es gibt neben den Straßen ja noch Investitionen in den Schienen-Personennahverkehr, in den ÖPNV allgemein und in die Wasserstraßen, die für Rheinland-Pfalz ökonomisch extrem wichtig sind. Aber Sie haben das Thema digitale Infrastruktur angesprochen. Wir müssen dafür sorgen, dass deren Ausbau vorankommt und können die vorhandenen Mittel nicht nur in Verkehrswege investieren. In der neuen Legislaturperiode machen wir da gute Fortschritte. Gegenwärtig haben wir eine Versorgung mit einer Bandbreite größer als 30 mbit/s von 84,45 Prozent. Damit liegen wir über dem Bundesschnitt. Bei Bandbreiten über 50 mbit/s sind es 76,7 Prozent, also ziemlich genau im Bundesschnitt.
Aber das ist nur der Status quo. Wir haben viele Förderbescheide vergeben, sodass wir 2018 eine quasi flächendeckende Versorgung mit mehr als 50 mbit/s erreichen können. Das ist eine gute Basis, auf der wir uns aber nicht ausruhen wollen. Ziel bleibt die flächendeckende Glasfaserverkabelung. Die werden die Länder nicht alleine finanzieren können. Deshalb bin ich gespannt, was der Bund tun wird. Es gibt ja Vorschläge wie den Verkauf der Bundesanteile an der Telekom, um den Erlös in die Glasfaser zu investieren.
Steht Rheinland-Pfalz wegen seiner ländlichen Struktur vor größeren Herausforderungen als andere Bundesländer?
Rheinland-Pfalz ist ein Land mit besonderen Herausforderungen, aber auch mit Standortvorteilen. Wir profitieren von unserer verkehrsgünstigen Lage in Europa, wir haben Verkehrswege in die ganze Welt. Wir haben in Ludwigshafen einen Landeshafen, der über Rotterdam den Zugang zu den Weltmeeren sicherstellt. Andererseits zeigt der Blick auf die Infrastrukturzahlen: Rheinland-Pfalz ist ein relativ großes Bundesland, aber wir sind mit 4 Mio. Einwohnern nicht bevölkerungsstark, dadurch relativ finanzschwach und müssen zum Beispiel 7.000 km Kreisstraßen unterhalten. Hessen hat 6 Mio. Einwohner, ist ein Geberland im Länderfinanzausgleich – und muss bei größerer Fläche nur 5.000 km unterhalten. Und von der Geografie des Landes ist zum Beispiel die flächendeckende Mobilfunkversorgung für uns schwieriger als etwa in Niedersachsen: Überall, wo Sie hügelige Landschaften haben, ist der Kostenaufwand wesentlich höher.
Muss man sich angesichts solcher und verstärkender Faktoren wie der Entvölkerung darauf einstellen, dass irgendwann bestimmte Gebiete etwa in den Mittelgebirgen ganz aufgegeben werden? Weil es sich schlicht nicht mehr lohnt, sie an sanierte Straßen, Mobilfunk oder Datenkabel anzuschließen?
Nein. Wir sehen durch die Digitalisierung neue Chancen für den ländlichen Raum. In der digitalisierten Welt spielt der Ort, an dem man lebt und arbeitet, eine geringere Rolle. Mit einer guten Breitbandversorgung kann ich von überall global kommunizieren. So relativiert sich die Attraktivität von Ballungsräumen. Insofern sind wir optimistisch, dass wir die Lebensverhältnisse im ländlichen Raum hoch halten können. Das ist eine der wichtigsten Maximen der Landespolitik: gleiche Lebensverhältnisse in Stadt und Land. Aus zwei Gründen: einmal für die Zukunft des ländlichen Raums, zum anderen, um das Auseinanderdriften der Gesellschaft zu verhindern. Deshalb haben wir gezielte Programme für die Infrastruktur in der Fläche. Zum Beispiel den Ausbau der B10, der Lebensqualität und Mobilität in der Westpfalz sichern soll, oder die Reaktivierung der Strecke Homburg–Zweibrücken als S-Bahn-Strecke. Da werden enorme Mittel investiert. Nicht dort, wo die meisten Menschen leben, sondern dort, wo die Not am größten ist.
„Wir sehen durch die Digitalisierung neue Chancen für den ländlichen Raum.“
Im Frühjahr haben in einer Umfrage mehr als 90 Prozent der befragten Unternehmer im Land den Breitbandausbau als wichtigste Anforderung an die Regierung benannt. Welche Rolle spielt für Sie der Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit, gerade auch der Unternehmen im ländlichen Raum?
In Rheinland-Pfalz kommen 30 Prozent der Wertschöpfung aus der Industrie. Und wir sind Mittelstandsland mit 95,5 Prozent kleineren und mittleren Unternehmen. Wir sind ein Land der Chemie, Pharmazie und von Automotive. Aber wir sind auch das Land von Industrie 4.0. Die ist an der Uni Kaiserslautern entwickelt worden, der Begriff stammt aus Rheinland-Pfalz und hat die ganze Welt und eine Zukunftstechnologie geprägt. Von dieser führenden Rolle wollen wir profitieren und in der Industriewelt 4.0 das Bruttoinlandsprodukt steigern. Dazu brauchen wir Start-ups, kreative Gründungen. Und die sind nur möglich, wenn die Regionen ans Breitbandnetz angebunden sind. Darauf richten wir die Wirtschaftspolitik aus: Wertschöpfung und digitale Transformation auch im ländlichen Raum.
Situation im Mittelrheintal ist „ein enormes Problem“
Die B10 haben Sie schon angesprochen. Wie ist der Stand anderer wichtiger Projekte wie der zweiten Rheinbrücke bei Wörth oder Alternativstrecken zur Mittelrheintrasse?
Bei der zweiten Rheinbrücke liegen wir im Zeitplan. Bald werden wir auch auf unserer Seite einen Planfeststellungsbeschluss haben. Das ist etwas komplizierter als auf baden-württembergischer Rheinseite, weil dort die Nutzung vor allem gewerblich ist, während es bei uns eher Naturschutzzonen sind.
Was das Mittelrheintal angeht: Das ist ein enormes Problem. Wir fordern vom Bund, dass er die Planung einer Alternativtrasse in den Bundesverkehrswegeplan aufnimmt. Das ist mehrfach abgelehnt worden. Wir bleiben trotzdem bei unserer Position. Wir sehen nicht, dass man mit Lärmminderungsmaßnahmen bei gleichzeitigem – und gesellschaftlich ja gewolltem! – Anstieg des Güterschienenverkehrs den Belangen der Bevölkerung und den touristischen Interessen des Landes gerecht werden kann. Zusätzlich zu unseren Forderungen an den Bund unterstützen wir die schnellere Umsetzung des Lärmschutzes durch den Einsatz moderner Bremssysteme und Güterwaggons.
Seit 2016 gibt es eine Art Überholspur für Infrastrukturprojekte, auf der juristisch als einzige Instanz das Bundesverwaltungsgericht eingeschaltet werden kann.
Genau, solche Planungsbeschleunigungen bringen wir parallel voran, auch mit den anderen Verkehrsministern. Ich halte das für sehr wichtig, weil wir der Bevölkerung nicht vermitteln können, dass wir einen Konsens zum Bau haben, aber wegen selbstgeschaffener Regelungen nicht mehr vorankommen. Der Lückenschluss der A1 ist so ein Verfahren, das wir beschleunigt vorantreiben. Der ist allerdings nach wie vor ein Horror. Die A1 ist eine der wichtigsten europäischen Autobahnen, und dass die unterbrochen ist, belastet massiv die A61 und den Verkehr auf der Rheinschiene. Es geht nur um ein paar Kilometer bei der A1. Aber wir haben Probleme, über die man lachen könnte, wenn sie nicht so traurig wären: Das Haselhuhn muss umgesiedelt werden, wozu auch alle bereit wären. Bloß findet keiner dieses Huhn. Seit Jahren. Aber jemand hat eine eidesstattliche Versicherung abgegeben, dass er es gesehen hat. Siedeln Sie mal ein Huhn um, das Sie nicht finden. Und dann muss auch noch bewiesen werden, dass es nicht da ist!
„Siedeln Sie mal ein Huhn um, das Sie nicht finden.“
Für die chemische Industrie sind auch die Wasserstraßen sehr wichtig. Wie ist der Status der Rheinvertiefung?
Ich bin im engen Dialog mit meinen Verkehrsministerkollegen aus Nordrhein-Westfalen, Hessen und Baden-Württemberg. Wir wollen die Vertiefung, sie ist aus vielerlei Gründen sehr wichtig für uns: Für die chemische Industrie und andere Industriebereiche spielt der Zugang zum Hafen Rotterdam eine entscheidende Rolle. Und durch die Vertiefung können wir die Abladetiefe so optimieren, dass wir günstiger und mit weniger CO2-Emissionen transportieren können. Jedes Binnenschiff könnte mindestens 200 Tonnen mehr Ladung transportieren. Das macht die Wasserstraßen attraktiver und entlastet die Straßen. Allerdings ist der Bund über die Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung für die Vertiefung zuständig – und hat dort leider „vergessen“, die Planungskapazitäten auszubauen.
Erwarten Sie beim Infrastrukturausbau mehr Engagement von Unternehmen?
Ich reklamiere das immer wieder bei der Breitbandversorgung: Die ist nicht in allen Fällen Aufgabe des Staates. Ich finde es bemerkenswert, dass wir mit einem großen gesellschaftlichen Konsens den Telekommunikationsmarkt privatisiert haben – und nun Teile der Wirtschaft immer zuerst den Staat beim Breitband in der Verantwortung sehen. Natürlich muss die Versorgung möglichst von privater Seite geleistet werden. Nur dort, wo sich das nicht rechnet, muss der Staat sie unterstützen.
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Warum der Mittelstand in Rheinland-Pfalz investiert, lesen Sie hier.