Politik & Wirtschaft

Warum die Deutschen gerne jammern

· Lesezeit 4 Minuten.
Warum die Deutschen gerne jammern
Perspektivwechsel: Harald Welzers Stiftung Futurzwei (futurzwei.org) will über Gutes sprechen, ohne es schönzureden. Foto: Martin Kraft

Wie gut geht es uns? Und warum haben wir Angst vorm Schlechtergehen? Ein Gespräch mit dem Soziologen und Sozialpsychologen Harald Welzer.

Allen Wirtschaftsdaten zufolge steht Deutschland ziemlich gut da. Gleichzeitig sprechen und lesen wir viel über Ängste, manche Parteien machen mit ihnen Politik. Das ist doch paradox, oder?

Schauen wir uns Umfragen zur Lebenszufriedenheit an, ist eine große Mehrheit der Deutschen zufrieden. Das kann nach objektiven Faktoren auch gar nicht anders sein. Einen Anteil von Unzufriedenen gibt es aber immer. Unter diesen Menschen gibt es je nach Persönlichkeitsstruktur oder politischer Auffassung eine chronische Form von Unzufriedenheit und Erregung. Hinzu kommt: Wir haben 70 Jahre Frieden und ein enormes Wachstum des Wohlstands erlebt. Und zumindest in Westdeutschland hat sich eine ganze Generation nichts erkämpfen müssen. Dadurch ist das Bewusstsein verloren gegangen, dass Wohlstand nicht selbstverständlich ist. Fehlt einem dieses Bewusstsein, neigt man dazu, auf hohem Niveau zu jammern.

„Keine kommunikative Kultur, die sich aufs Positive bezieht“

Und dazu, sein Wohlbefinden gefährdet zu sehen.

Das führt einfach zu Fehlwahrnehmungen. Wir haben eine mehr als 300 Prozent höhere Kaufkraft als 1960. Wir müssen einen Bruchteil der damals nötigen Arbeitszeit aufwenden, um das Geld für ein Brötchen oder einen Fernseher zu verdienen. Aber Unzufriedenheit bemisst sich in Relation: Es gibt immer einen, der noch mehr hat. Nähmen wir die Perspektive auf unsere Eltern oder Großeltern ein, bemerkten wir, dass es uns noch nie so gut ging. Ein heutiger Durchschnittsverdiener in der Bundesrepublik hat einen in jeder Hinsicht höheren Lebensstandard als Ludwig XIV. Aber die Referenz für Wohlbefinden ist heute und morgen, nicht gestern.

Kann man dagegenhalten? Mit Angst wird Stimmung gemacht, warum nicht mit Wohlbefinden?

Im Alltag, in der Politik und in den Medien fehlt uns die kommunikative Kultur, die sich auf das Positive bezieht. Es hat keinen Erzählwert. Man müsste sich nicht nur in der Wissenschaft angewöhnen, auf das zu schauen, was gut läuft. Der Harvard-Psychologe Steven Pinker hat das in seinem Buch „Aufklärung jetzt“ gerade vorgemacht, das fast nur aus den Fortschritten der vergangenen Jahrzehnte besteht. Und die gibt es reichlich, schauen wir uns etwa Daten zu Durchschnittseinkommen, Armutsquoten, Lebenserwartungen oder Kindersterblichkeit an. Es wäre völlig verzerrt, zu glauben, es würde alles schlechter.

 

„Brauchen ein anderes Selbstverständnis“

Lässt sich diese Fehlwahrnehmung korrigieren?

Wir müssten ein anderes Selbstverständnis etablieren. Das ist nicht leicht. Negativer Klatsch ist interessanter als positiver, in Talkshows gucken wir, wer den größten Quatsch erzählt hat, und nicht, wer den konstruktivsten Beitrag hatte. Das hat sich eingeschlichen. Vielleicht ist auch das ein Wohlstandseffekt, dazu gibt es keine belastbaren Daten. Was man aber umgekehrt sagen kann: Mit einer Politik der Angst lassen sich bestimmte gesellschaftliche Gruppen hysterisieren, das wissen wir aus der Geschichte.

Wer sind diese Gruppen?

Es sind jedenfalls nicht die „Abgehängten“, von denen man oft liest. Sondern die Abstiegsbedrohten, die Angst haben, dass es ihnen einst schlechter gehen könnte. Die heiße Frage der Gegenwart ist, ob diese Politik der Angst irgendwann aus dem Fünftel der Bevölkerung überspringt, von dem wir wissen, dass es eher vorurteilsbeladen und menschenfeindlich eingestellt ist. Solange die Politik der Angst dort bleibt, kann eine stabile Demokratie das aushalten.

Es wird ja durchaus versucht, diese Ängste objektiv zu begründen: Angst vor Jobkonkurrenz durch „Fremde“, Angst vor weniger Verteilmasse …

Psychologisch unterscheiden wir reale und neurotische Ängste. Die neurotischen sind der Sache nach unbegründet. Was wäre eine reale, empirisch begründete Angst für Deutschland im 21. Jahrhundert? Zum Beispiel die Folgen des Klimawandels oder die Entwicklungen auf den Mietmärkten. Gegen neurotische Ängste vor Flüchtlingen, davor, dass einem etwas weggenommen wird, kann man nicht rational argumentieren, auch wenn unser Wohlstand objektiv nicht gefährdet ist durch Zuwanderung.

„Schlechter Weg mit schlimmen Folgen – diese Erzählung ist totaler Bullshit“

Plädieren Sie für mehr Gelassenheit? Oder gleich für mehr Zufriedenheit mit dem, was man hat?

Plädieren kann man, bis der Arzt kommt. Psychologisch ist das ein Sachverhalt – Vorurteile oder Ängste können Sie nicht mit Sachargumenten abschaffen.

Hllft es, mehr über gute Entwicklungen zu erzählen, so wie Sie das mit Ihrer Stiftung futurzwei tun?

Sicher. Aber letztlich ist es die Frage einer kulturellen Erzählung: Sind wir auf einem guten oder schlechten Weg? Entgegen aller Fakten dominiert die Erzählung vom schlechten Weg mit schlimmen Folgen. Und die ist totaler Bullshit.

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