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Tarifbindung in der Chemie: Wie bleibt sie auch in Zukunft stark?

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Tarifbindung in der Chemie: Wie bleibt sie auch in Zukunft stark?
Gemeinsame Interessen: In der Chemieindustrie schritten Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Tarifangelegenheiten oft Seite an Seite. Foto: stock.adobe.com/Industrieblick

Ein tarifgebundenes Arbeitsverhältnis bietet Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern besonders gute Löhne und vorteilhafte Arbeitsbedingungen. Zudem sorgt es für Planungssicherheit und Arbeitsfrieden. Ein Tarifvertrag wird von den Sozialpartnern – den Gewerkschaften und Arbeitgebervertretern – ausgehandelt.

In der chemischen und pharmazeutischen Industrie in Rheinland-Pfalz schließen beispielsweise der Landesbezirk Rheinland-Pfalz/Saarland der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE) und der Arbeitgeberverband Chemie Rheinland-Pfalz (AGV Chemie) Tarifverträge ab, die verbindliche Regeln festlegen. Die Mitgliedsunternehmen des AGV Chemie sind an diese Regeln gebunden.

Chemieindustrie: Spitzenreiter der Tarifbindung

In der chemischen Industrie in Deutschland sind 78 Prozent der Beschäftigten tarifvertraglich abgesichert. Das ist ein Spitzenwert im Vergleich zu anderen Branchen. Gesamtwirtschaftlich sind es derzeit nur etwa die Hälfte der Beschäftigten. In der deutschen Industrie insgesamt liegt die Tarifbindung bei 68 Prozent.

Grafik: BAVC

Weshalb hier die Tarifbindung so hoch ist, hat unterschiedliche Gründe. Zuallererst hat die Branche eine starke Tradition der Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften. Das liegt mitunter daran, dass die Arbeitsbedingungen in der Branche oft komplex sind. Sie erfordern klare Regeln und Schutzmaßnahmen, die auf einem engen Austausch zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern beruhen.

Zugleich gab es zwischen beiden Parteien stets ein gemeinsames Interesse an guten Tarifbedingungen, um die chemische Industrie attraktiv für Fachkräfte zu halten und in allen Sektoren qualifizierte Mitarbeiter zu gewinnen.

Dieses besondere Einvernehmen zwischen den Sozialpartnern hat in der chemischen und pharmazeutischen Industrie Tradition. Er zeigt sich zum Beispiel daran, dass es in der Branche seit 1971 keine größeren Arbeitskämpfe mit Streiks gegeben hat. Zudem ist das durchschnittliche Lohnniveau in der Chemie mit einem Bruttojahresgehalt von über 77.000 Euro außergewöhnlich hoch im Vergleich zu anderen Branchen.

Aktueller Tarifkonflikt dreht sich auch um Fragen der Tarifbindung 

In den aktuellen Tarifverhandlungen für die 585.000 Beschäftigten der Branche zeichnet sich jedoch eine schwierige Konfliktlinie ab. Alle neun regionalen Verhandlungsrunden blieben ergebnislos. Die Verhandlungen werden nun am 14. Mai auf Bundesebene fortgesetzt. Während die IGBCE eine 7-prozentige Lohnsteigerung fordert, verweisen die Arbeitgeber auf die harte Lage der Branche und bestehen auf einem „Krisenabschluss“.

Unter anderem Rohstoffkosten belasten die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen chemischen Industrie erheblich. Dies hat bereits jetzt zu Personalabbau und Investitionsverlagerungen geführt. Viele Unternehmen verzeichnen Umsatzeinbußen und sinkende Produktion. Zudem unterstreichen die Arbeitgeber gegenüber den Gewerkschaften, dass es 2024 bereits eine signifikante Entgelterhöhung für die Beschäftigten gab, die über die Inflationsrate hinausgeht. 

Die IGBCE zeigt bisher bei den Verhandlungen kein Verständnis für diese Argumentation. Der Verhandlungsführer der IGBCE, Oliver Heinrich, drohte bereits mit Warnstreiks: „Die Arbeitgeber sollten eigentlich wissen: Arbeitskämpfe zählen zu unserem Werkzeugkasten“, sagte er im April gegenüber der Süddeutschen Zeitung. 

Mitgliederschwund bei den Gewerkschaften: Es gibt mehrere Gründe

Ein weiterer Knackpunkt in den Verhandlungen ist die IGBCE-Forderung nach Boni für ihre Mitglieder, um deren Bindung an die Gewerkschaft zu erhöhen. Diese formuliert die Gewerkschaft vor dem Hintergrund schwindender Mitgliederzahlen. Waren 1994 in Deutschland noch fast 9,8 Millionen Menschen in Gewerkschaften organisiert, gab es im Jahr 2023 laut Zahlen des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) nur noch etwa 5,6 Millionen Gewerkschaftsmitglieder.

Diese Entwicklung trifft auch die IGBCE. Allein in den vergangenen drei Jahren verlor sie laut DGB-Zahlen um die 33.000 Mitglieder. 2023 kam sie nur noch auf 572.537 Mitglieder. 

Die Gründe für den Mitgliederschwund von Gewerkschaften sind vielfältig. Eine große Rolle spielt der demografische Wandel. Viele ehemalige Mitglieder sind mittlerweile in Rente und dadurch nicht mehr in Gewerkschaften organisiert. Auch die Zahl der Auszubildenden nimmt ab, da junge Menschen eher ein Studium vorziehen, wodurch sie später weniger mit Gewerkschaften in Berührung kommen. Eine aktuelle Befragung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) gibt weitere Hinweise.

Die Umfrage untersuchte die Gründe für den Mitgliederschwund in den Gewerkschaften in der Metall- und Elektroindustrie und befragte dazu knapp 2.600 Arbeitnehmer. Die Ergebnisse zeigen, dass die Gründe dafür nicht in der fehlenden Akzeptanz der Gewerkschaften liegen, sondern in fehlendem Wissen und fehlenden Berührungspunkten. Viele Nichtmitglieder wissen wenig über die Arbeit der Gewerkschaften und den Mitgliedsbeitrag.

Zudem sehen Beschäftigte oft keinen Bedarf, Mitglied zu werden, da sie ohnehin von Tarifabschlüssen profitieren. 

Etwa ein Fünftel der befragten Nichtmitglieder empfindet zudem die Mitgliedsbeiträge der Gewerkschaften als zu hoch beziehungsweise kann sie sich nicht leisten. Auch eine Tendenz zur „Individualisierung“ war zu erkennen, die dazu führt, dass viele glauben, ihre eigenen Probleme am Arbeitsplatz besser allein lösen zu können. Die Studienmacher empfehlen, dass die Gewerkschaften mehr Aufklärung leisten und Anreize bieten sollten, um Nichtmitglieder zu überzeugen. 

Bonuszahlungen für Gewerkschaftsmitglieder versus gleiche Bezahlung

Die Chemie-Arbeitgeber sind jedoch sehr kritisch gegenüber der aktuellen Forderung der IGBCE, den Mitgliederschwund durch zusätzliche Zahlungen an Mitglieder zu bekämpfen. Viele Unternehmen sehen dies als unvereinbar mit dem Grundsatz der gleichen Bezahlung für gleiche Arbeit. Eine Unterscheidung bei der Bezahlung je nach Gewerkschaftszugehörigkeit könne zu Spannungen in der Belegschaft führen.

Darüber hinaus wird befürchtet, dass diese Regelung zu Austritten aus den Arbeitgeberverbänden führt, wodurch die traditionell hohe Tarifbindung in der Branche grundsätzlich bedroht ist.

Seit 2022 in Diskussionen: Die Sozialpartner suchen Wege zur Stärkung der Tarifbindung.
Video: BAVC

Indes bekennen sich die Arbeitgeber zur Sozialpartnerschaft, die eine starke Mitgliederbasis in Gewerkschaften voraussetzt. Arbeitgeber und Gewerkschaften führten unter anderem in Workshops einen intensiven Austausch darüber, wie die Tarifbindung verbessert werden kann.

Stärkung der Tarifautonomie durch Steuervorteile

Die Arbeitgeber vertreten den Standpunkt, dass die Stärkung der Tarifautonomie auch eine staatliche Aufgabe ist. Daher eignen sich die folgenden Schritte, um eine höhere Tarifbindung zu erreichen:

  • eine stärkere steuerliche Berücksichtigung von Gewerkschaftsbeiträgen,
  • flexiblere und weniger bürokratische Tarifverträge,
  • Schulungen und Veranstaltungen in den Betrieben.

Die Vielzahl dieser Optionen erhöht die Chancen, dass die starke Tarifbindung in der Chemiebranche weiterhin bestehen bleibt.

 

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