Ob man nun Auto oder Bahn fährt: Jeder, der sich in Deutschland fortbewegt, wird derzeit mit hoher Wahrscheinlichkeit durch Baustellen beeinträchtigt. Allein in Rheinland-Pfalz kommt es etwa in Ludwigshafen mit der Erneuerung der Hochstraßen Süd und Nord bis 2026 zu massiven Behinderungen. Wie kann das sein – und was muss passieren, damit die Unternehmen sich wieder auf intakte Verkehrswege verlassen können? Fragen an Tilman Benzing, Verkehrsexperte beim Verband der Chemischen Industrie (VCI).
Gerade wird gefühlt alles auf einmal erneuert. Wie konnte es dazu kommen?
Tilman Benzing: Bei vielen Bauwerken, besonders den in den 60er- und 70er-Jahren errichteten Straßenbrücken, wurde die Lebensdauer überschätzt. Das hängt auch mit der Zunahme des Verkehrs, vor allem des Lkw-Verkehrs, zusammen. Die Verkehrsmengen sind viel größer als prognostiziert. Gleichzeitig sind die technischen Anforderungen an diese Bauwerke gestiegen. Viele Brücken haben derzeit ihre maximale Lebensdauer erreichen. Entweder erkennt man das rechtzeitig oder sie müssen gesperrt werden. Wie bei der Hochstraße Süd in Ludwigshafen, bei der man unerwartet feststellen musste, dass sie nicht mehr nutzbar ist. Gleichwohl: Unsere Brücken sind sicher. In Deutschland werden diese Bauwerke sehr gut überwacht. Es ist unwahrscheinlich, dass sie zusammenbrechen.
“Man hat in den vergangenen 10 bis 20 Jahren versäumt, dieses Thema zu antizipieren und sich entsprechend darauf vorzubereiten. Mittlerweile hat das Verkehrsministerium Sanierungsprogramme aufgelegt. Dadurch muss jetzt sehr viel auf einmal gemacht werden.”
Tilman Benzing
Wurden also Investitionen in die Infrastruktur jahrzehntelang vernachlässigt?
Benzing: Man hat in den vergangenen 10 bis 20 Jahren versäumt, dieses Thema zu antizipieren und sich entsprechend darauf vorzubereiten. Mittlerweile hat das Bundesverkehrsministerium ein Brückensanierungsprogramm aufgelegt. Dadurch muss jetzt sehr viel auf einmal gemacht werden.
Wie sieht es mit den Auswirkungen auf die Wirtschaft aus?
Benzing: Wie groß die wirtschaftlichen Einbußen sind, beispielsweise durch Staus, ist im Detail schwer zu beziffern. Es gibt jedoch Schätzungen für einige Fälle, in denen kritische Infrastruktur ausgefallen ist. Beispielsweise für das Niedrigwasser am Rhein 2018. Eine Studie der Erasmus-Universität Rotterdam besagt, dass allein in Deutschland bei den am Fluss verladenden Unternehmen ein Schaden von 2,4 Milliarden Euro entstanden ist. Ein großer Teil davon sind Produktionsrückgänge aufgrund fehlender Transportmengen, da man die ausgefallene Menge nicht komplett auf die Bahn verlagern konnte.
Also ein durchaus erheblicher Schaden…
Benzing: Ganz klar. Wir haben an vielen Stellen bei der Infrastruktur Probleme. Aber: Nach wie vor gilt Deutschland insgesamt als Logistikstandort mit einer prinzipiell gut ausgebauten Infrastruktur. Doch Investitionen in die Infrastruktur sind kostspielig. In Deutschland muss man den volkswirtschaftlichen Nutzen solcher Projekte immer nach einem standardisierten Verfahren durchrechnen. Der Nutzen muss dabei stets größer sein als die Kosten. Ansonsten darf es von der öffentlichen Hand nicht realisiert werden.
“An den sehr langen Genehmigungs- und Realisierungsverfahren muss die Politik dringend arbeiten; genauso wie an der Frage, wie das alles finanziert werden soll.”
Tilman Benzing
Dennoch wird vieles anscheinend nicht konsequent angegangen. Der VCI stellt regelmäßig „Top-80-Vorschläge für bessere Verkehrswege“ zusammen, die sich an politische Entscheidungsträger richten. Wie schätzen Sie derzeit die Lage ein?
Benzing: Mit unserem Bericht ist es uns definitiv gelungen, auf das Thema aufmerksam zu machen. Im Verkehrsministerium und im Bundestag gibt es kein Verständnisproblem. Die Politik hat verstanden, dass man da ran muss. Neben dem erwähnten Brückenbauprogramm beginnt in diesem Jahr auch die Generalsanierung der Bahn. Allerdings bremsen noch die sehr langen Genehmigungs- und Realisierungsverfahren.
Es gibt Statistiken, nach denen bei Infrastrukturprojekten in Deutschland vom Beschluss bis zum Baubeginn durchschnittlich fünf Jahre vergehen.
Benzing: Ja, daran muss die Politik dringend arbeiten; genauso wie an der Frage, wie das alles finanziert werden soll. In den vergangenen Jahren wurden die Mittel erheblich aufgestockt. Im Zuge der Haushaltskrise hat man die Mittel zwar nicht auf null gesetzt, aber doch vieles wieder infrage gestellt. Wir brauchen für die Finanzierung aber eine langfristige Lösung. Das könnte zum Beispiel ein Fonds sein, der einen dauerhaften Finanzierungsmechanismus für die Verkehrsinfrastruktur bedeutet. Damit nötige Maßnahmen nicht jedes Jahr unter dem Vorbehalt stehen, ob die Finanzmittel im Haushalt verfügbar sind oder nicht.
Was wird denn derzeit unternommen, um die Realisierungszeiten zu verbessern?
Benzing: Man macht in Deutschland alles sehr gründlich. So wurde lange nicht unterschieden, ob es sich beispielsweise um ein völlig neues Verkehrsinfrastrukturprojekt handelt, oder ob das Bauwerk, eine Brücke etwa, nur ersetzt werden soll. In beiden Fällen war der volle Umfang der Planungs- und Genehmigungsverfahren erforderlich. Gerade bei Ersatzneubauten verlängerte dies den Prozess erheblich, obwohl im Grunde die gleiche Brücke wieder neu gebaut wurde. In den vergangenen Jahren führten Genehmigungsbeschleunigungsgesetze für solche Fälle dazu, dass man bei Ersatzbauten auf sogenannte Planfeststellungsverfahren verzichten konnte. Voraussetzung war jedoch, dass die Brücke exakt gleich dimensioniert werden musste. Sollte die neue Brücke aber an das erhöhte Verkehrsaufkommen angepasst und damit in der Regel größer sein, musste der gesamte Genehmigungsprozess durchlaufen werden. Darauf kann neuerdings unter bestimmten Voraussetzungen verzichtet werden. Sprich: Man nähert sich dem Ziel in langsamen Schritten. Es gibt auch bei der Bahn mittlerweile entsprechende Erleichterungen. Beispielsweise können Schienenwege jetzt ohne Planfeststellung elektrifiziert werden.
Heißt das, Bauprojekte könnten künftig schneller umgesetzt werden?
Benzing: Es bessert sich, aber es dauert noch immer lange. Denn es besteht ein erheblicher Personalmangel in den Behörden. Davon betroffen sind vor allem Projekte für den Ausbau von Wasserstraßen. Wenn auf der einen Seite nicht ausreichend Ingenieure und Sachbearbeiter da sind, die diese Projekte planen, und auf der anderen Seite bei der Verwaltung Personal fehlt, das Projekte genehmigt, sorgt das für erhebliche Verzögerungen. Bei dem wichtigen Projekt der Abladeoptimierung am Mittelrheinrhein sind aktuell aber nur circa 50 Prozent der Stellen besetzt.
Die chemisch-pharmazeutische Industrie gilt als eine der transportintensivsten Branchen. Warum ist das so?
Benzing: Die chemisch-pharmazeutische Industrie ist an den verschiedenen Wertschöpfungsstufen beteiligt. Das beginnt mit Rohstoffen, beispielsweise Raffinerieprodukten oder Salz, die häufig mit der Bahn oder dem Binnenschiff zu größeren Industriestandorten transportiert werden. Dort verarbeitet man sie weiter zu Basischemikalien oder Zwischenprodukten, die wiederum oft zu anderen Chemieunternehmen gebracht und dort weiterverarbeitet werden. Dann geht es zu kleineren und mittleren Standorten, die mit dem LKW bedient werden. Ein chemisches Molekül kann also durchaus nacheinander mit dem Schiff, der Bahn oder dem Lkw unterwegs sein. Und nimmt man das zusammen, dann kommen viele Transporte zustande.
In Rheinland-Pfalz ist viel Chemieindustrie verortet. Welche Maßnahmen müssten hier am dringendsten angegangen werden?
Benzing: Ein wichtiges Projekt ist der Neubau der Hochstraße Nord in Ludwigshafen. Noch gibt es die alte Hochstraße, die durchhalten muss, bis die Hochstraße Süd fertiggestellt ist. Die Rheinquerung zwischen Mannheim und Ludwigshafen ist extrem wichtig. Ein weiteres Vorhaben ist der Neubau einer zweiten Rheinbrücke zwischen Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz bei Wörth am Rhein. Die dort bestehende Rheinbrücke ist überlastet. Das wären aus unserer Sicht zwei vordringliche Straßenprojekte. Und bei der Wasserstraße ist es die Engpassbeseitigung am Rhein, die an vielen Stellen nötig ist. Auch wenn man aktuell eher an Hochwasser denkt, wurde 2018 beim Niedrigwasser am Rhein durch die Trockenheit deutlich, dass wir diese sogenannte Abladeoptimierung am Mittelrhein dringend brauchen. Mit dieser wird die Tiefe der Fahrrinnen von 1,90 Metern auf 2,10 Meter vergrößert. Damit können die Schiffe bei Niedrigwasser mehr Ladung transportieren. Bei der Bahn haben wir ein eher langfristiges Projekt aufgenommen: die Entlastung des Mittelrheintals durch eine neue Zugtrasse durch den Westerwald und Taunus. Diese ist jedoch durch den hohen Tunnelanteil sehr teuer. Aufgrund des Prinzips der Nutzen-Kosten-Berechnung hat sie nach aktuellem Stand leider kaum eine Chance, realisiert zu werden.
Weitere Informationen zur Verkehrsinfrastruktur ist auf der Webseite des VCI zu finden.